Seelenfrieden by Ahmet Hamdi Tanpinar

Seelenfrieden by Ahmet Hamdi Tanpinar

Autor:Ahmet Hamdi Tanpinar [Tanpinar, Ahmet Hamdi]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Großstadt, Istanbul, Türkei, Türkische Bibliothek
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-12-19T16:00:00+00:00


Dann fügte sie hinzu: »Wenn ein Mensch eine Stadt so erfassen kann, gehört ihm meine ganze Bewunderung! Jedes Mal, wenn ich diesen Vers höre, fallen mir Rodins Bürger von Calais ein.«

Mümtaz ergänzte: »Yahya Kemal hat da etwas sehr Großes, Beständiges erfasst. Diese Herbststunde kann man nur so schildern.« Alles zeigte, dass der Sommer zu Ende ging. Dieser Gedanke allein gab ihnen das Gefühl, einen besonders wichtigen Augenblick zu erleben. Mit dieser Empfindung lauschten sie ihrer Umgebung.

Sie waren traurig, dass der Sommer nun vorbei war. Vor ein paar Tagen hatte Nuran Mümtaz gezeigt, dass ein erster Schwarm Schwalben über ihre Köpfe hinzog. Und an diesem Morgen war sie mit drei vertrockneten Eichenblättern in die Ufervilla gekommen, die sie auf dem Weg gefunden hatte. Der Todeswurm hatte sie an den Rändern angefressen und war dann wie ein Sonnenuntergang in ihre Mitte vorgedrungen. Die weichen Blätter waren spröde und metallisch geworden, als habe man sie von einem Abend abgerissen.

Die Stimme eines einzelnen Vogels wiederholte einen wunderlichen Lockruf zwei, drei Mal, als sei sie eine Flöte, die plötzlich in einem fernen Orchester zwischen Geigen und Celli erwachte. Beide stellten sich ein Unglück vor, das den Hintergrund für diese Sehnsucht abgab, auf jeden Fall, wenn auch unklar, mit ihr auf irgendeine Weise zusammenhing und sie vermutlich nährte, weshalb sie so schneidend klang, aber doch auch ganz eigenständig. Die Bäume in den Wäldern spürten jetzt, wie ihre Säfte ihren Durst nicht mehr stillten. Die Zweige wollten sich zusammenstecken, als frören sie, und die trockenen Blätter fielen bei der geringsten Erschütterung. Allüberall war es bunt wie im Frühling, die Mastixbäume röteten sich wie Purpurweiden, waren nur trauriger.

»Lass uns mal früh an einem Morgen in den Wald von Emirgân gehen. Es ist so schön, wie die Bäume aufwachen und dabei zu zittern scheinen …«

Ein Stück Wolke, das von einem rätselhaft aufgekommenen Wind in Bewegung gesetzt worden war, verwandelte sich erst in einen Rosengarten, zerteilte sich dann in lauter kleine Stücke und hielt über ihren Köpfen inne, um sich dort wie ein Teppich vor die Vorderhufe eines Rappen mit feuriger Mähne hinzubreiten.

Sie standen auf und gingen langsam los. Der schattige Weg zwischen dem Hang und der Mauer der Ufervilla wirkte wie der Eingang zu einem alten Tempel. In diesem Gang schauten sie durch die Äste über der Mauer zu, wie der Abend sie Schritt für Schritt begleitete.

Zu dieser Stunde, in der alles unter seiner eigenen Last ächzte, wanderten sie mit einem seltsamen Sinn für das Schicksal Hand in Hand bis Anadoluhisarı. Dort gingen sie in das kleine Kaffeehaus rechts neben der Anlegestelle. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, die ganze Anlegestelle voller Boote auf Blaufischfang. Sie schauten auf ihr allabendliches Vergnügen, als sei es etwas ganz Fremdartiges. Hätte sie in dieser Minute jemand gefragt, ob sie dem Leben trauten, hätten beide geantwortet: »Nein, aber wir sind sehr glücklich, so wie es ist! Nein, aber was solls? Wir sind jetzt gerade, in dieser Minute, glücklich!«

Auf dem Weg sprachen sie nur über die Wohnung, die sie gemietet hatten, eine kleine Behausung in Talimhane.



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